Gaudí hat eine erhebliche Anzahl großartiger Werke hinterlassen, sein
Hauptwerk, an dem er die letzten Jahrzehnte seines Lebens arbeitete, ist
jedoch die Sagrada Família in Barcelona. Der Bau, ein Vorhaben von
ungeheurer Dimension, wurde zu seinen Lebzeiten bei weitem nicht fertig,
bis zum Bürgerkrieg wurde weitergebaut, dann kamen alle Arbeiten zum
Stillstand. Der Bürgerkrieg in Spanien wurde mit ungeheurem Hass und
ungeheurer Brutalität geführt, auf der einen Seite die verfassungsmäßige
Linksregierung, unterstützt von den in Spanien mächtigen Anarchisten,
den Kommunisten und Sozialisten aller Schattierungen, auf der anderen
Seite die
aufständischen Militärs, im Inneren unterstützt von der unendlich
reichen Oberschicht und der Kirche (beides die wichtigsten Auftraggeber von
Gaudí), von
außen her von Hitler und Mussolini. Aus dieser Konstellation heraus ist
es verständlich, dass so manches Sakralbauwerk zu Schaden kam, so auch
die Sagrada Família, die von den Anarchisten beschädigt wurde, wobei vor
allem auch ein Großteil der Unterlagen zum Bau verlorenging. Die Reste
wurden in jahrzehntelanger Arbeit wieder geordnet, vor allem wurden
seine zahlreichen Gipsmodelle wieder zusammengebaut.
Erst in letzter Zeit, angefacht vermutlich auch durch den katalanischen
Nationalismus, wurde der Weiterbau wieder ernsthaft aufgenommen, die
heute sicher erscheinende Fertigstellung wird aber noch viele Jahre auf
sich warten lassen (angeblich in den Zwanzigerjahren).
Während sich die Profanbauten durchaus in den europäischen Jugendstil
einordnen lassen, setzt die Sagrada Família unmittelbar die Gotik fort,
wenn man das Innere auf sich wirken lässt, wird man sich der Meinung
nicht ganz verschließen können, es handle sich hier um die Apotheose
(und damit den definitiven Abschluss und Höhepunkt der Gotik, siehe das
Bild).
Kennzeichen der Gotik sind:
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Der modulare Grundriss.
Ein Grundmaß (hier 7.5m) bzw. ein Modul (ein Joch) wird festgelegt
und daraus der gesamte Grundriss aufgebaut. Dabei ist die Anzahl der
Schiffe nicht das Wesentliche: ein "normaler" Großbau hatte deren
fünf, nicht ganz so große drei, fallweise auch zwei
(Dominikanerinnen in Imbach) oder auch nur eines (Kartäuser). Auch
das "gebundene System der Höhenstaffelung ist nicht charakteristisch
(Hallenkirchen). Wir sehen es hier perfekt verwirklicht.
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Das Trägersystem. Die
einen Bau zerstörenden Kräfte werden in den Rippen, Säulen (Pfeilern
und im Strebewerk gebündelt und abgeleitet. Die dazwischen liegenden
Mauerteile haben keine tragende Funktion, sie konnten daher durch
riesige Fenster ersetzt werden (die diaphanen Wände der Gotik).
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Das Licht wurde ein
wichtiges Element. Die Kathedrale wurde durch das von den bunten
Glasfenstern gefilterte Licht in ein magisches (himmlisches!!) Licht
getaucht, dazu waren die Pfeiler und die Wände bunt bemalt, nicht
mit Figuren sondern mit einem ausgefeilten Farbsystem, das von
"erdigen" Farben unten bis zu "himmlischen" oben reichte, die Decke
etwa immer blau mit goldenen Sternen.
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Alle diese Elemente sehen
wir hier verwirklicht, und zwar (man muss es schon sagen) perfekter
als in der Gotik selber, auf Grund neuer Techniken, Materialen,
wissenschaftlicher Erkenntnisse und vor allem aber durch die
Kenntnis neuer geometrischer Elemente. In diesem Sinn setzt die
Kathedrale die vor 500-600 Jahren aprupt zum Stillstand gekommene
Gotik fort, entwickelt sie weiter und führt sie zu einem neuen
Höhepunkt. "Entwickelt sie weiter" ist hier besonders wichtig, denn
die Neugotik (Votivkirche) führt sie auch weiter, aber auf demselben
Niveau (wie perfekt es auch immer war).

Die Sagrada Família - die Vollendung der Gotik und das
Abbild des neuen Jerusalem: Offb 21,
18 Und ihr Mauerwerk war aus Jaspis und
die Stadt aus reinem Gold, gleich reinem Glas. 19 Und
die Grundsteine der Mauer um die Stadt waren geschmückt mit allerlei
Edelsteinen. Der erste Grundstein war ein Jaspis, der zweite ein Saphir,
der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, 20
der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sarder, der siebente ein
Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein
Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. 21
Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus
einer einzigen Perle, und der Marktplatz der Stadt war aus reinem Gold
wie durchscheinendes Glas.
Eine Besprechung der seinen Bauten zugrunde liegenden
Geometrie ist sehr schwierig bzw. letztendlich unmöglich.
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Einerseits war er zweifellos auf der Höhe der
damaligen Geometrie und mit einer großen Klasse von Flächen
vertraut, viel mehr, als damals in der Architektur verwendet wurden.
Daneben war er als Architekt natürlich auch in der Statik bestens
geschult. Die Pläne waren derartig kompliziert, dass sie nicht mit
damaligen (und heutigen) Mitteln gezeichnet werden konnten; für die
Fertigstellung der Sagrada Família wird eine Software aus der
Flugzeugkonstruktion verwendet.
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Wegen der Unmöglichkeit, Pläne zu zeichnen, bzw. um
überhaupt die gestellten Probleme lösen zu können, fertigte er
Gipsmodelle an, von denen die meisten in den Bürgerkriegswirren
verloren gingen. Für die Baumeister heute ist es sehr schwer, seine
Entwürfe zu rekonstruieren (eher: zu erraten). Als Architekt der
Superreichen in Katalonien und prononcierter Katholik war er der im
Elend lebenden Arbeiterschaft und deren politischer Vertretung, den
Anarchisten, eher ein Feindbild.
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Die in früheren Zeiten fertig gestellten Bauten
können natürlich bequem analysiert werden (die Villen oder den Park
GÜell kann man bequem durchwandern und vermessen), bei der Sagrada Família
geht das nicht so einfach, in über 60m Höhe befindliche Gewölbe
können nicht so einfach begutachtet werden, außerdem sieht man es
einem Gewölbe dieser Art keineswegs ohne weiters an, aus welchen
geometrischen Objekten es besteht.
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Aus diesem Grund werden nur einige Aspekte
herausgegriffen; auch nur einen Baldachin wirklich richtig und mit
allen Details zu modellieren wird eher unmöglich sein.
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Neben der großen Zahl nutzloser Literatur sollen
zwngei Werke besonders hervorgehoben werden:
José Louis Moro (Hg.): Antoni Gaudí. Sinnliche Konstruktion: München
2003
Mark Burry. Gaudí Unseen: Berlin 2007
Virtueller Rundgang
Eine größere Anzahl einschlägiger Literatur befindet sich übrigens
in der Bibliothek der TU Wien.
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Dass es sich bei der Sagrada Família um Gotik handelt, geht schon einmal
ganz klar aus dem Grundriss hervor und aus der Architektur im
Großen, wie ein Vergleich mit dem Kölner Dom zeigt (niemals könnte
man von einem beliebigen Renaissance- oder Barockbau
auch nur die geringste Ähnlichkeit mit einem gotischen Grundriss behaupten).
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Die gotische Kathedrale besteht aus einzelnen Jochen, die das
Maßsystem insgesamt festlegen. Jedes Joch ist von einem Baldachin
überspannt, der aus den Rippen und dem Gewölbe dazwischen besteht.
Die Rippen dürften dabei Kreisbögen, unter Umständen auch Korbbögen
gewesen sein mit im Scheitelpunkt nicht waagrechter Tangente, das
verbindende Gewölbe im einfachsten Fall Kreis- (nicht Dreh-)
Zylinder. Die Rippen tragen die gesamte Last des Baues, man könnte
alle Wände und Gewölbeflächen entfernen ohne die Stabilität des
Baues zu erschüttern (theoretisch wenigstens). Der (lotrechte)
Gewölbedruck wird von den Rippen auf die Dienste weitergeleitet.
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Jedes Gewölbe weist einen (waagrechten) Schub nach außen auf,
der im Falle der Romanik durch massives Mauerwerk abgefangen wird,
im Fall der Gotik durch die an der Außenseite liegenden Strebebögen.
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Eine manchmal vorkommende, eher hanebüchene Methode sind die
Zuganker, massive Holzbalken oder Ketten, die das Auseinanderfallen
der Gewölbe unterbinden. Besonders imposant sind die Ringanker in
den großen Kuppeln der Renaissance, etwa Santa Maria del Fiore in
Florenz oder San Pietro in Rom (man muss sich dazu allerdings in den
sehr unangenehmen Raum zwischen Innen- und Aussenkuppel begeben).
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Weiters sieht man gut das "gebundene System", die Koppelung von
rechteckigen und quadratischen Jochen.
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Unten also ein Baldachin (Blender) bzw. die Realität (Reims)
Quelle 1:
Wikipedia
Quelle 2:
Wikipedia
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Sagrada Família (Quelle),
im Vergleich dazu der Kölner Dom (Quelle) |
In der Gotik griff man zu keinen weiteren Flächen als den erwähnten
allgemeinen Kreiszylindern, allerdings wurde das rechteckige Joch bald
variiert indem man andere Grundrisse verwendete (im Chorumgang Trapeze),
und die vier Zylinderstücke vervielfachte, so dass außerordentlich
vielfältige und sehr komplizierte Gewölbe entstanden (Netzrippengewölbe). Höhepunkt und Ende
gotischer Innovationslust war die ins Extreme gesteigerte Kathedrale St.
Pierre von Beauvais, die (geradezu folgerichtig) einstürzte und den
Baumeistern ihre Grenzen aufzeigte.
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Die Konstruktion mit Blender ist übrigens ganz einfach, zuerst
werden zwei kongruente zueinander etwas verschobene Zylinder
geschnitten, worauf man einen Zylinder mit linsenförmigem
Querschnitt erhält.
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Ein weiteres derartiges Objekt wird entworfen und vom ersten
subtrahiert. Dann wird gleich auch die untere Hälfte entfernt.
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Das so veränderte erste Gewölbe wird dupliziert und um 90°
gedreht.
Gaudí griff die Idee der gotischen
Kathedrale wieder auf und setzte sie fort, allerdings unter Verwendung
der inzwischen erreichten theoretischen Erkenntnisse und praktischen
Technologie. Die Sagrada Família ist durchaus als Höhepunkt (und vom
heutigen Standpunkt wenigstens) Vollendung der Gotik anzusehen, wie die
beiden Bilder zeigen, nebenbei durchaus benachbarte Bauten: die
Kathedrale von Barcelona und die
Sagrada Família.

Die Neuerungen von Gaudí waren u.A.:
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Ersetzung der kreis- oder ellipsenförmigen Bögen durch Parabel- oder
Kettenlinienbögen, vor allem bei Gewölben in Haus und Keller.
Grund:
"Ein Bogen folgt einer Stützlinie, wenn in seinem gesamten Querschnitt bei einer gegebenen Belastung nur Druckspannungen vorhanden sind. Biege-, Schub- und Torsionspannungen sind dagegen nicht vorhanden. Bei einem nur mit seiner eigenen Gewichtskraft belasteten Bogen folgt die Stützlinie einer Katenoide, bei einer über die Bogenspannweite verteilten Gleichstreckenlast einer quadratischen Parabel. Der Materialeinsatz für einen in einer Stützlinie verlaufenden Bogen ist minimal, die Stützlinie repräsentiert damit ein Optimum."
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Das gotische System der Joche wurde beibehalten, der
Baldachin allerdings nicht mehr aus Zylinderteilen zusammengesetzt,
sondern aus einschaligen Drehhyperboloiden, deren Kehlkreis dann ein
Fenster nach oben zu bildet. Dadurch ist der Innenraum noch viel
stärker von Licht durchflutet als in der Gotik. Der Übergang der
Hyperboloide in die Pfeiler ist aus der Literatur nicht zu
beantworten, aus der Anschauung schon gar nicht. Es sind
möglicherweise hyperbolische Paraboloide mit verwendet. Das zugrunde
liegende Maß beträgt 7.5m, das Langhausjoch umfasst zwei solcher
Module.
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Die Pfeiler/ Säulen mit den anliegenden Diensten waren in
der Gotik zylindrisch, wenn auch mit kompliziertem Querschnitt.
Jetzt werden als Querschnitt z.B. zwei um 45° verdrehte Quadrate
verwendet, die gegenläufig verschraubt werden. Während diese
Abweichung (zur Gotik) eher geringfügig ist, führt eine andere zu
völlig anderen Ergebnissen: die Säulen werden baumartig verzweigt.
Zunächst folgt eine Art Kapitell in Form eines Drehellipsoides,
darüber verzweigt sich die Säule in zwei und vier Teile. Die
einzelnen Säulen öffnen sich dann in Form von Drehhyperboloiden zum
Gewölbebaldachin hin.
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Auch für die Fenster wurden eigene Lösungen gefunden, z.B. den
Durchbruch durch die Wand durch einschaliges (elliptisches)
Hyperboloid.
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